Freitag, 9.3.18, E-Werk Erlangen

Tocotronic gehen nach 70 Minuten mit einem charismatisch-erotisch geröhrten «Ciao!» (Duden-Empfehlung: «Tschau!» – ja ciao cacao!) von der Bühne. Zwei Zugabesongs, dann nochmal tschüß, bevor sie einen letzten Song spielen. Anschließend erklingt ein Chanson aus dem letzten Jahrhundert, dessen Titel und Interpretin ich leider nicht kenne (vielleicht ist sie noch nicht tot und ich lerne sie mal wieder erst kennen, nachdem sie gestorben ist).

Ich bleibe stehen und finde die Konzertklammer schön, die dieses Chanson zusammen mit dem klassischen Bombastintro eines Streicherorchesters bildet. Die Reihen lichten sich schnell, das halbe Publikum denkt: «Chanson-Schmonson – ich will jetzt raus und rauchen/pissen/Jacke/ficken/plaudern!» Was sie nicht bemerken: das Saallicht ist noch nicht auf ‹normal› und das Backdrop, das «Unendlichkeit»-Covermotiv mit grün schimmernden Sternen, wird noch dezent angestrahlt.

Die andere Besucherhälfte weiß die Zeichen zu deuten, fordert noch eine «Zuu-gaa-wää» und klatscht, bis die Oberarme übersäuern. Die drei Minuten, die die Musikanten («hehe, das Wort paßt hier gar nicht, aber ich laß es trotzdem», Torsten Gaitzsch, TITANIC) hinter der Bühne verbringen, muß ihnen vorkommen wie die Unendlichkeit.

Dann erlösen sie sich, dööö-DÖÖÖÖ-dööö-wröömm-wröö-WRÖÖMM dröhnt es juvenil-eifrig übersteuert aus den Boxen, und der Sänger weiß nach fast auf den Tag genau 23 Jahren (*) immer noch nicht, «wieso ich euch so hasse / Fahrradfahrer dieser Stadt». Das Gefühl der Vereinzelung und des Ausgegrenztseins allerdings bleibt: «Ich bin alleine und ich weiß es / Und ich find es sogar cool / Und ihr demonstriert Verbrüderung».

* «Digital ist besser», VÖ: 6. März 1995

Es muß öde sein, als Band immer auf ~dieses eine Lied~ reduziert zu werden. Angesichts einerseits der Zeitlosigkeit dieses Songs und andererseits einer derartigen Zelebrierung kann man den Reduzierer/innen jedoch keinen großen Vorwurf machen. Ob aber Lowtzow sich gelegentlich den Spaß erlaubt, in diesem Tocotronic-«Katzeklo» die Strophenreihenfolge Fahrradfahrer–Backgammon-Spieler–Tanztheater zu verändern, um die Mitgröhler/innen im Publikum durcheinanderzubringen?

Abschließend noch eine Frage, liebe Konzertbesucher/innen: Wo müßt ihr denn während eines Konzerts eigentlich immer hin, wenn ihr rausgeht? Und warum meint ihr, wenn ihr wieder reingeht, euch immer wieder zu exakt dem Platz mitten in der Saalmitte durchquetschen zu dürfen, an dem ihr zuvor standet? Und warum quetscht ihr euch nicht zur Abwechslung an anderen Leuten vorbei? Ja ja, ich versteh’ schon, sich darauf einzurichten, 90 Minuten in einem Publikum zu verbringen, darauf hat nicht jede/r Bock. Und wenn sich dann das Große Bedürfnis meldet, der Harndrang, die Nikotinlust oder der große Durscht, dann gebt ihr diesem Bedürfnis natürlich sofort nach, und das haben alle anderen Besucher/innen selbstverständlich zu berücksichtigen, da ihr nun mal nicht auf jede/n Rücksicht nehmen könnt und aber anschließend wieder Anspruch auf euren Platz habt.
Versteht mich nicht falsch – freilich könnt ihr mal rausmüssen, niemand soll irgendwo festgezwungen werden. Und ich wäre schön blöd, wenn ich mich auf einem Rockkonzert über Körperkontakt beklagen würde. Aber wollt ihr mir während des Konzerts nicht mal zwei Minuten gönnen, in denen ihr nicht an mir vorbeiwetzt und -rempelt? Die ganzen zauberhaften Stellen, an denen ich, vor lauter Schall und Licht und Sang und Wahn verloren im Nirgendwo, nicht mehr wußte, wo ich war – Dank euch wußte ich jedes Mal sofort wieder, wo ich war.
Ich bin alleine und ich weiß es / Und ich find es sogar cool / Und ihr demonstriert Bedürfnisbefriedigung.

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