Kleiderschrank; Verschwörungstheorie

Kürzlich von einer Privatperson einen Kleiderschrank abgelöst. Solide Mittelschicht, Doppelhaushälfte in ruhiger Familiengegend, zwei, drei Bakfietse in der Nachbarschaft, zwei kleine Kinder, Rasen im Garten heuer nicht so gut und wird wohl auch nicht mehr, aber was willste machen mit den Kindern, beim Nachbarn drüben schon ganz anders. Gemeinsamer Schrankabbau mit dem Verkäufer, Akkuschrauber Bosch, Ziploc für alle Schrauben und so. Lockeres Gespräch, Herkunft, was macht ihr, disdas. Nach 25 Minuten Thema Corona, logo, nee, keine Fälle in den eigenen Kreisen. Bei Minute 40 fallen sie dann, die magischen Worte:
»Ich bin ja kein Verschwörungstheoretiker, aber …«
… es sei auch nur ein Virus und auch nicht gefährlicher als andere Viren und vorstellbar sei es ja schon, dass da auch anderes dahinterstecke. Meine Freundin und ich wechseln unsichtbare Signale, das Gespräch wird woanders hingelenkt, ja wie machen wir jetzt am besten weiter mit dem Abbau, haha ja Ikea und die Schrankrückwände haha *lach* Er ist sehr hilfsbereit und geht gut zur Hand beim Einräumen ins Auto. Danke, tschüss!

Orangensaft; Norddeutschland

Seit kurzem wohne ich in Norddeutschland und schon entdecke ich die ersten Tollheiten. Z.B. dieses Orangensaftgebinde mit Fassungsvermögen  1 , 3 5  Liter  bzw.  6  3 / 4  P o r t i o n e n .

Wer denkt sich sowas aus. Welche total verrückten Überraschungen mag diese Region noch so bereithalten.

Leichte Wut aber walkt in mir hoch bei der Lektüre zweier Hinweise auf dem Etikett: »(Das Orangenblatt liegt hier nur fürs Foto und darf nicht in die Flasche.)« und die Klammerbemerkung in »Diese Flasche besteht zu mind. 30 % aus recyceltem Plastik. Bitte recycle sie wieder (erst austrinken).« Für wen hält der Hersteller seine Kund*innen.

Norddeutschland 1 – Andreas 1

Stüssy; Niederbayern

In meiner Jugend wollte ich Teil der Skatekultur sein. Skateboard fahren konnte ich nicht. Riefe Eric »Do a Kickflip!« Koston mir zu: »Do an Ollie!«, ich könnte heute noch nur verschämt weglachen. Aber Stunt Skates, auch genannt Aggressive Skates, also solche zum Grinden, hatte ich und ›stand‹ in der Alte-Leute-Dorfsiedlung auf von Vater zusammengedengelten Rails und Curbs auch den einen oder anderen Trick. Die etwa drei Jahre, die ich das machte, gingen gänzlich ohne Verletzung rum, obwohl ich die Skates derart läppisch locker schnürte, dass es »schnürte« heißen müsste und ich ohne Senkelöffnen raus- und reinsteigen konnte; weil ich wollte mich so gut es ging reinlegen können aufm Rail.

Im Straubinger Skateshop »77 Sunset Strip«, genannt Seventyseven, bewunderte ich in den Auslagen all die coolen Skateboard- und Klamottenmarken. Carhartt und Vans und Adio und wie sie nicht alle hießen. Und Stüssy.

Jetzt, 20 Jahre später, schauen Freundin und ich gerade Season 3 der Serie Fargo, worin einige wichtige Figuren den Nachnamen Stussy tragen. Ausgesprochen: [stassi]. Und es dämmert mir: Lag ich all die Jahre falsch mit der zumindest mental so getätigten Skateboardmarken-Aussprache [stüssi]? Ja. Indes die englische Wikipedia und das restliche Internet entgegen der Fargo-Aussprache sagen, es werde [stuːsi], also in etwa STOO-see ausgesprochen. Jedenfalls nicht [stüssi].

Mit 11, 12, 13, 14 Jahren aber wusste ich noch nicht um die im Englischen phonetisch bedeutungslosen Röck Döts wie in Motörhead, Mötley Crüe oder Queensrÿche. Und sagte eben, wie alle Normalen: [moutörhäd], [mötlai crü] und Queensrÿche kannte ich noch gar nicht. Woher auch.

»Die Bravo gabs bei uns am Dorf nicht«, antwortete der stellv. bayerische Ministerpräsident und ebenfalls in Niederbayern aufgewachsene Hubert Aiwanger kürzlich dem stalinistisch-genozidalen Sozenbengel Kevin Kühnert auf Twitter (zum Thread). »Wir waren sozusagen bewahrt von all dem, was Sie in Ihrer Jugend in Berlin aushalten mussten.« Woraufhin Kühnert, der ein bewunderns- wie beneidenswertes Twittergame fährt, das bekannte Söderfoto vorm FJS-Jugendzimmerposter postete mit dem Kommentar: »Bitter! Sie hatten also nie einen Bravo-Starschnitt an der Wand… 😥« Was den gesunden Volkskörper Aiwanger veranlasste zur Antwort: »Nein. Keine beklebten oder beschmierten Wände. Geweißelt.« Weil’s beim Hubert schon innen im Kinderzimmer aussehen und zugehen musste wie später im repressiv durchkonformierten Dorferscheinungsbild.

(Offenlegung: Die Bravo gab’s bei »uns« »am Dorf« schon, und zwar beim Loibl-Bäcker an der Hauptstraße sehrschräg gegenüber der Pfarrkirche, aber da standen solche interessant-aufklärerischen Dinge halt auch nicht drin.)