Lysergsäurediethylamid

Letzte Stunde Kunstunterricht am Tag vor den Ferien. Einige Schüler*innen haben an dem Tag nur diese Unterrichtseinheit auf dem Stundenplan. Die Lehrkraft malt sich aus, dass von den 20 eingeschriebenen keine 5 Leute aufkreuzen werden – Oberstufe eben. Also setzt sie sich, es sind noch zwei Stunden bis zum Beginn der Stunde, ans Onlineportal der Schule und schreibt an alle Kursteilnehmer*innen: »Liebe SuS, falls Sie heute noch etwas vorhaben: Vergessen Sie nicht, dass wir heute eine praktische Einheit zur Malerei unter LSD-Einfluss machen. Und kommen Sie bitte keinesfalls mit dem Auto oder Rad. Bis nachher!« »Und wo sind jetzt die Pieces, die wir einwerfen können?!«, klagjohlt eine Minute dreißig nach Stundenbeginn ein auf dem Schoß eines der anderen 32 Anwesenden sitzender Schüler. »Pieces … einwerfen …?«, pariert die Lehrkraft sichtlich irritiert. »Hä Sie ham doch gmajlt mir nemma heid LSD und mol’n dann a Buidl! Hom Sie uns ebba o’gschissn, zefix?!«, belfern die zuagroast’n aus Zwiesel zugezogenen Zwillinge Severin und Genoveva durcheinander. »Nein, warum?«, wehrt die Lehrkraft ab, »und achten Sie bitte auf Ihre Wortwahl, Herr und Frau Aiwanger.« »Aber hier steht’s doch:«, hält ihm die halbe Klasse das Smartphone mit geöffneter E-Mail* entgegen: »Vergessen Sie nicht, dass wir heute eine praktische Einheit zur Malerei unter LSD-Einfluss machen«, zitieren ihn triumphesforsch 18 Kehlen unisono. »Ach, hab ich LSD geschrieben?«, lacht die Lehrkraft, die sich gespielt auf die Stirn klatscht, mit so einer ultranervigen Gespieltheit, die kecke Lehrkräfte zeigen, wenn sie die SuS mit irgendwas ›drangekriegt‹ haben. Aus dem Materialraum wiederkehrt die Lehrkraft, mit zwei riesigen Lichtpanels unter den Armen: »Ich meinte natürlich LED-Einfluss, weil solche LED-Lampen doch so anstrengendes Licht machen«, grinst sie, was die SuS nur mit dem Clownsemoji wiedergeben würden, den Rest lassen sie die KI erledigen. Eines Tages war Josef K. verleumdet worden.

* Bei einem Schüler ist’s versehentlich eine Pornoseite, sogar eine mit justiziablen Inhalten.

Novalis’ Bedarfe

»Erinnerung schmilzt in kühler Schattenflut,
So sang das Lied dem traurigen Bedarfe.
Doch unenträtselt blieb die ew’ge Nacht,
Das ernste Zeichen einer fernen Macht.«
(aus Novalis’ 5. Hymne an die Nacht)

Moment mal: War die von Novalis, einem der programmatischen Dichter:innen der deutschsprachigen Romantik, selbsternannte progressive Universalpoesie so universal und so progressiv, dass sie – Hartz IV bereits 200 Jahre vorab enthielt (vgl. »Bedarfe«, »Das ernste Zeichen einer fernen Macht« etc.), zu einer Zeit obendrein, als so etwas wie Sozialdemokratie bzw. ›Sozialdemokratie‹ noch 50 bzw. 100 Jahre in der Zukunft lagen? Also das wär’ ja was. Und wenn sich in seinen Schriften jetzt noch Hinweise auf das »Bürgergeld« fänden erst!

Wo ist was

So manche*r las als Kind Wissenswertes über das Weltall, die Dinosaurier, erstaunliche Technologie und anderes in der Kinderbuchreihe WAS IST WAS des Tessloff Verlags. Mir selbst hat sich diese Marke so sehr eingebrannt, dass ich mir beim Anblick des folgenden Tessloff-Kleinkinderbuchs – völlig zurecht, meines Erachtens – die alberne Frage stelle: Warum heißt das nicht WO IST WO?

Zugegeben, der Titel gäbe nicht viel Inhalt her (»Links ist links.«, »Oben ist oben.«, …), außer man behandelte ihn philosophisch. Aber ich habe eine Slightly-offtopic-Anekdote: Im Bachelorstudium der Germanistik besuchte ich ein Hauptseminar namens »Das Motiv des Sterns bei Paul Celan«. Neben Poetologischem, Kabbalistischem und Holocaust- wie Antisemitismusthematisierendem war zentraler Gegenstand des Seminars Celans Beschäftigung mit physikalischen und technologischen Erscheinungen, unter anderem aus den Bereichen Astronomie und Astrologie. Das Referat der Sitzung zu den beiden letztgenannten Themen hielt eine Person, die das Seminar wahrscheinlich aus stundenplanökonomischen Gründen besuchte. Die Quellenliste am Ende ihrer Präsentation zeugte von ausgeprägter Lustlos- und Wurschtigkeit und versprühte das redbullgesättigte Air des »Die ersten drei Google-Treffer für ›Astrologie‹«. Enthielt sie doch u. a. – ich schwöre, ich lüge nicht – eine URL von wasistwas.de. Und zwar bierernst als adäquate Informationsquelle. Jede*r sollte von mir aus mit bestmöglichen Ergebnissen bei geringstmöglichem Aufwand von der Uni abgehen, aber darüber habe ich mich doch geärgert. Ich meine, wasistwas.de, im notabene Lehramtsstudium?! Mit so einer Quelle wirst du in der 8. Klasse Realschule vom Hof gejagt.

Gendersensible Sprachwissenschaft

Auf Torsten Gaitzschs »Kchybersetzung« »Kybersetzung« lese ich in einem Beitrag, dass ein Sprachwissenschaftler untersucht hat, ob und inwiefern es in der Schweizer Stadt Biel (Kanton Bern) vom Bildungsgrad abhängt, ob jemand bekannt schweizerisch dialektal »Glückch«, »Sackch« etc. oder standarddeutsch »Glück«, »Sack« etc. sagt. Interessant! Es wurden dafür sogar 16 Personen befragcht befragt. Dass laut der empirischen Untersuchung tatsächlich eine Abhängigkeit besteht, wundert mich so wenig wie Torsten.

Eine Kleinigkeit an dem Forschungsbeitrag finde ich schön: Im abgebildeten Fazit ist zu sehen, dass in der »Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik« die gendersensible Formulierung mit Sternchen verwendet wird. Das finde ich schön, weil mein Eindruck ist, dass gerade in der Linguistik – neben unbestreitbaren bewundernswerten progressiven Tendenzen –, in solchen Dingen oftmals sehr konservativ, wo nicht reaktionär gedacht wird. Siehe etwa den Aufruf »Linguisten gegen Gendern« oder den »wissenschaftlichen Beirat« des Vereins deutsche Sprache, in dem ein Prof. em. aus der Historischen Sprachwissenschaft meiner Alma Mater ist, bei dem ich immer so lachen muss, weil er zeitwissenschaftslebens die Entwicklung der deutschen Sprache über die Jahrhunderte hinweg unter all den fremdsprachigen Einflüssen untersucht hat und jetzt einen reaktionären Verein wissenschaftlich berät, dessen Großem Vorsitzendem zurecht der Vorwurf gemacht wird, die Vereinszeitung läse sich wie das Organ einer Sprach-PEGIDA.

Bereiche wie Historische Sprachwissenschaft oder Dialektologie scheinen mir insgesamt eher ›traditionsverbunden‹ zu sein. Und gerade bei der diachronen Forschung, d. h. bei der, die die historische Entwicklung einer Sprache untersucht, finde ich es eben verwunderlich, wenn manche Vertreter*innen auf einem vermeintlich guten/reinen Sprachstand pochen, der nicht etwa von Anglizismen befleckt werden dürfe. Als hätte sich nicht das heutige Deutsch über die Jahrhunderte hinweg mit verschiedensten Einflüssen entwickelt. Latein, Französisch, und was weiß ich. Warum da jetzt zeitgenössische Anglizismen plötzlich die Sprache ›zerstören‹ sollen, ist mir schleierhaft. Aber solche Purist*innen gab es wohl schon immer, auch zu Zeiten des starken französischen Einflusses auf das Deutsche. Crasser Sprachpurist war bspw. Johann Heinrich Campe, der 1794 die Abhandelung Über die Reinigung und Bereicherung der deutschen Sprache und 1801 ein Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke publicirte. Und manch große Dichtsperson des ausgehenden 18. Jahrhunderts wurde/wird sehr gelobt dafür, deutsche Entsprechungen zu französischen und anderen Fremdwörtern erfunden zu haben, bspw. beschränkt statt borniert (Goethe), Einklang statt Harmonie (Klopstock), angemessen statt adäquat (Gottsched) und – spätestens da wurde es albern – Gaukelbild statt Phantom (Schiller); bloß gut, dass The Phantom of the Opera 200 Jahre später nicht als Das Gaukelbild der Oper ›eingedeutscht‹ wurde.

Man mag es meinetwegen mit gendersensiblen Formulierungen halten, wie man will (ich halte sie für notwendig), aber gerade bei einer »Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik« finde ich sie ein schönes Zeichen.

PS: Eigentlich wollte ich den Teil nach dem ersten Absatz beim zitierten Blogbeitrag kommentieren, aber dann wurde die Ausführung so lang, und so einen Riemen kann ich ja niemandem drunterkommentieren.